Karlheinz Kobus bewältigt als Dialysepatient bei den Bieler Lauftagen erfolgreich den 100 km - Lauf
Es ist der 08.Oktober im letzten Jahr. Der Tag verändert mein Leben wie kaum einer zuvor. Mit dem Rettungswagen werde ich in die Notaufnahme des KKH Sinsheim eingeliefert. Diagnose: Versagen beider Nieren (Terminale Nierensuiffizienz), was im Nierenzentrum Heidelberg bestätigt wird.
Ein Schock für einen wie mich, Ultraläufer mit langer Geschichte und von der Gesundheit verwöhnt. Ich habe überlebt, aber den Läufer Karlheinz K. soll es nun nicht mehr geben. Als 16jähriger habe ich meinen ersten Wettkampf bestritten – in Biel, die 100 km. Seither habe ich ununterbrochen 25 weitere Male an dieser phantastischen Veranstaltung erfolgreich teilgenommen. Zwischendurch habe ich so „verrückte Sachen“ wie den Spartathlon, Badwater, Western States, Trans-Gaule, Deutschlandlauf und Trans-Australia-Footrace gemacht. Andere Marathon- und Ultraläufe habe ich nicht gezählt.
Vorbei? Dem Schock folgt der Trotz und der Glaube an die Kraft des Willens und des positiven Denkens. „Ich werde wieder in Biel an der Startlinie stehen, komme was da wolle“, ist mein einziger Gedanke. „Die Serie wird nicht reißen“.
Mit positivem Denken alleine ist nichts gewonnen. Ich muss was tun. Zunächst brauche ich Geduld. Am 05. November werde ich nach fast 4wöchigem Aufenthalt und einer operativ angelegten PD-Katheteranlage für die zukünftige Nierenersatztherapie (Bauchfelldialyse) aus dem Nierenzentrum Heidelberg entlassen. Drei weitere Wochen brauche ich zur Erholung, dann gehe ich wieder zur Arbeit. Das Jahr 2008 endet versöhnlich und 2009 startet verheißungsvoll: ich beginne mit leichtem Lauftraining. Jeder, der schon einmal eine Verletzungspause hatte, kennt es: Der Anfang ist schwer, aber man fühlt sich auch wie neu geboren.
Mein Körper lässt mich nicht im Stich. Am Samstag, den 14.03.2009 feiere ich mein Wettkampf-Comeback beim Gedächtnislauf von Würzburg nach Gemünden (44 km/5:09 Std.). Ein erstes Teilziel ist erreicht und ich bin glücklich, zurück zu sein in der Läuferszene.
Für den Erfolg ist es oft entscheidend, wie man mit Rückschlägen umgeht. Sie gehören zum Leben. Vor Ostern bekomme ich eine Bauchfellentzündung und eine Zwerchfellhernie, eine Bauchfelldialyse ist nicht mehr möglich. Sofort wird ein Demas-Katheter zur Hämodialyse angelegt. Es geht weiter.
Dann am 05. Mai der nächste Hammer: 40,5° Fieber, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall und wieder fast 3 Wochen Krankenhaus. Dabei werde ich komplett auf Hämodialyse umgestellt und die „alte“ Anlage entfernt. Am 23. Mai werde ich aus dem Heidelberger Nierenzentrum entlassen und bin entschlossener als jemals zuvor, mir meinen Traum „100 km Biel“ zu erfüllen. Mir bleiben ja noch 3 Wochen. Arbeit, Laufen, Dialyse (3 Tage, immer 5 Stunden) – Laufen, Dialyse, Arbeit – Arbeit, Laufen … Ich habe nur ein Ziel. Jeden Tag bewege ich mich in seine Richtung.
Freitag, der 12. Juni – lang ersehnt und endlich da. 8 Monate und 4 Tage nachdem sich mein Leben von heute auf morgen schlagartig verändert hatte, beginnen an diesem Morgen um 5:30 Uhr die vielleicht ungewöhnlichsten und emotionalsten Stunden meines Lebens.
Um 7:00 Uhr steht zuerst die Dialyse auf dem Programm. Mit dem Zug geht es direkt über Heidelberg, Karlsruhe und Basel nach Biel. Um 18.10 Uhr bin ich dort. Gänsehaut – alleine für diesen Augenblick hat sich alles gelohnt. Zwei Ereignisse bestimmen mein Leben: mein Biel und meine Krankheit.
Beim Eisstadion treffe ich viele Freunde und Bekannte. Wir wünschen uns viel Erfolg und gutes Gelingen bei der "Nacht der Nächte". Dann hole ich meine Startnummer, treffe letzte Vorbereitungen und stehe im Starterfeld. Ist es wahr, bin ich hier? Der Startschuss beantwortet meine Frage. Es geht los. Mein 27. Bieler 100er. Mein Lauf, meine Serie.
Karlheinz Kobus auf der Brücke in Aarberg
Die ersten Kilometer sind leicht, es geht durch die hell erleuchtete Stadt, vorbei an klatschenden Menschenmengen. Dann kommt der Wald, Felder und Wiesen, kleine nette Ortschaften und immer wieder Zuschauer, die uns anfeuern. Bei km 17 erreichen wir Aarberg, mit seiner bekannten Holzbrücke eines der Wahrzeichen der 100 km von Biel. Es ist faszinierend: Zuerst noch die Volksfeststimmung auf dem großen Platz, Hektik an der Verpflegungsstelle und dann die Stille der Nacht. Gespräche verstummen, man ist in sich gekehrt und konzentriert.
Km 38,5 - Oberramsern. Der Radbegleiter einer Bekannten erkennt mich in der Dunkelheit. Er weiß von meiner Krankheit, kann es nicht glauben, spricht mich an. Essen, trinken, es geht weiter über sanfte Hügel, Feldwege und Nebenstrassen.
4:30 Uhr, der Himmel verfärbt sich zu einem grandiosen Sonnenaufgang. Ich erreiche Kirchberg (km 58) und bin bestens gelaunt. Während ich mich ausreichend stärke, melde ich mich per Handy wie vereinbart bei zwei Menschen, die mir wichtig sind: bei Andrea, meine Lebensgefährtin und bei meinem Freund Klaus Neumann, der gerade beim Transeuropalauf auf dem Weg zum Nordkap ist. Sie freuen sich, dass es mir gut geht.
Dann kommt der legendäre Ho Tschi Minh Pfad und ich halte mich an meine Taktik, abwechselnd zu Laufen und zu Gehen, obwohl mehr möglich wäre. Der Weg ist noch lang. Hin und wieder treffe ich Bekannte, wechsle ein paar Worte, behalte aber immer meinen Ultra-Schlappschritt bei.
Bis km 82 geht das so ganz gut, dann muss auch ich kämpfen. Eine Blase am linken Fuß, die nicht optimale Vorbereitung und die aufsteigende Sonne machen mir zu schaffen. Der landschaftliche schönste Streckenabschnitt entlang der Aare lenkt mich etwas ab. Von Ausflugsbooten wird gegrüßt. Bei der Verpflegungsstelle in Büren setze ich mich in den Schatten eines Baumes. Kaum sitze ich so da, gesellen sich etliche Läuferinnen und Läufer dazu und im Nu ist ein angeregtes Gespräch im Gang. Nach 15 Minuten mache ich mich auf den Weiterweg. Noch 11 Kilometer.
Meine Kräfte lassen nach. Ich passe mein Tempo an, Ankommen lautet mein großes Ziel. Sonst nichts. Kurze Gespräche mit anderen Läufern motivieren und lenken ab. 95 km, 96 km … 99 km. Ich schaffe es.
Der Laufsport hat mir viel gegeben, ich habe viel erlebt. Was jetzt kommt, ist mit das Größte. 100 Kilometer, 15 Stunden, 1 Minute, 56 Sekunden. 8 Monate und 5 Tage nachdem alles zu Ende schien.
Und nächstes Jahr komme ich wieder. Entweder als Dialysepatient oder als Transplantierter. Nur wer an seine Träume glaubt, kann sie verwirklichen.
Ich danke allen, die mich auf meinem Weg unterstützen.